Sind die «Klimakleber» schuld am Absturz der Grünen?

Der Ärger über Strassenblockaden von Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten oder die ungünstige Themenkonjunktur: Was hat die Grünen am Wahlsonntag die meisten Stimmen gekostet? Die gängigsten Thesen im Datencheck.

in Zusammenarbeit mit Ruben Schönenberger, erschienen auf den CH Media Portalen am 26. Oktober 2023

Trotz der Korrektur des Bundesamtes für Statistik bleibt es dabei: Die Grünen sind die grössten Verlierer der Wahlen 2023. Die Ökopartei verlor 3,4 Prozentpunkte Wähleranteil und fünf Nationalratssitze. Was steckt hinter der Niederlage?

1. In Zeiten akuter Krisen geht der Klimawandel unter

Im Gegensatz zu früheren Wahlen hat in diesem Jahr kein einzelnes Thema die Diskussion dominiert. Zu diesem Schluss kommt eine Untersuchung der Forschenden des Jahrbuchs Année Politique Suisse. Sie haben ausgewertet, wie häufig Printmedien in den Wochen vor den Wahlen über verschiedene politische Themen berichteten.

Im Vordergrund der Diskussion standen gemäss der Auswertung vor allem die Themen «Krankenkasse» und «Banken» – was wohl vor allem mit dem rekordhohen Prämienanstieg und dem Untergang der Credit Suisse zusammenhängt.

Zum Paradethema der Grünen, dem Klima, sind laut der Studie während der heissen Wahlkampfphase nur unwesentlich mehr Artikel erschienen als zum gleichen Zeitpunkt im Vorjahr. Ganz anders war die Situation bei der «Klimawahl» 2019: Damals verfünffachte sich die Zahl der Klima-Artikel gegenüber dem Vorjahr; die Medien berichteten vor allem über die vielen grossen Demos der Klimajugend.

Übers ganze Wahljahr betrachtet wurde 2023 allerdings nicht weniger, sondern mehr übers Klima berichtet als 2019, wie eine exklusive Auswertung des Forschungszentrums für Öffentlichkeit und Gesellschaft zeigt. Doch auch in dieser Analyse ist ersichtlich, dass die Berichterstattung leicht abflaute, je näher der Wahlsonntag rückte.

2. Die Siege der SP gingen auf Kosten der Grünen

Die Hochburgen der Grünen liegen in den Städten. Hier hat die Partei allerdings auch am meisten Wählerinnen und Wähler verloren (-4,2 Prozent). Dennoch ging in den städtischen Gemeinden immer noch mehr als jede zehnte Stimme an die Grünen – deutlich mehr als in den ländlichen und als intermediär bezeichneten Gemeinden.

In den Städten ist aber auch die SP stark. Die beiden Parteien konkurrieren um den gleichen Teil der wahlberechtigten Bevölkerung. Bei den Veränderungen der Parteistärken gegenüber 2019 zeigt sich, dass die SP ähnlich stark gewachsen ist, wie die Grünen verloren haben. Das links-grüne Lager bleibt in den städtischen Gemeinden insgesamt fast gleich stark. Die Vermutung liegt nahe: Manch einer, der 2019 grün gewählt hat, hat in diesem Jahr rot eingelegt.

Wenn man die obige Grafik von allen städtischen Gemeinden – aktuell klassifiziert das Bundesamt für Statistik 474 Gemeinden so – umschaltet und nur die zehn grössten Städte der Schweiz betrachtet, sieht man dieselbe Tendenz. Mehr noch: Das links-grüne Lager konnte sogar zulegen. Die SP hat in den Grossstädten mehr gewonnen, als die Grünen verloren haben.

Die Nachwahlbefragung der SRG SSR bestätigt die Wanderung von grün zu rot: Zwei Prozentpunkte dürften die Grünen an die SP verloren haben – mehr als an jede andere Partei.

3. Die Grünen haben zu wenig gut mobilisiert

Die zweitgrösste Wählerwanderung der Grünen ging in Richtung Nichtwählende. Hat die Partei einfach zu wenig gut mobilisiert? Diese These ist schwierig zu bestätigen oder zu entkräften. Die Indizien deuten aber eher darauf hin, dass das nicht das Problem war.

Vergleicht man beispielsweise die Differenz der Wahlbeteiligung zur letzten eidgenössischen Wahl mit der Differenz der Parteistärke der Gemeinde, zeigt sich auf Gemeindeebene: Wo eher mehr Wählerinnen und Wähler als noch vor vier Jahren ihre Stimme abgaben, haben die Grünen leicht besser abgeschnitten. Wenn die Stammwähler der Partei im grossen Stil zu Hause geblieben wären, hätte sich das umso mehr auswirken müssen, wo die Wahlbeteiligung stärker gewachsen ist.

Bei der SP ist ein leicht gegenteiliger Effekt zu sehen. Das könnte die These stützen, insgesamt bleibt die Aussage aber vage.

4. Die «Klimakleber» sind nicht schuld am Absturz

Vor vier Jahren half die Klimajugend den Grünen, jetzt schadet sie der Partei. Die Klebeaktionen der Bewegung «Renovate Switzerland» sind laut dem Wahlbarometer der SRG das drittgrösste Ärgernis der Bevölkerung.

Schaut man sich die Ärgerprofile der Wählerinnen und Wähler der einzelnen Parteien an, zeigt sich jedoch ein anderes Bild: Während die «Klimakleber» bei den bürgerlichen Parteien SVP, FDP und Mitte gar als grösstes Ärgernis genannt werden, stehen sie bei den Grünen-Wählerinnen und Wähler weit unten auf der Liste. Ähnlich bei der SP. Vielmehr stört die linke Wählerschaft laut der Befragung die «Passivität trotz Klimakatastrophe».

Dies spricht eher gegen die These, dass «Renovate Switzerland» mit ihren Klebeaktionen Wählerinnen und Wähler der Grünen vergrault. Unbestritten ist jedoch, dass Debatten über die Strassenblockaden auch medial immer häufiger den inhaltlichen Diskurs zum Klimaschutz überlagern.

5. Wichtige Zugpferde in den Regionen fehlten

Die grössten Verluste erlitten die Grünen im Baselbiet und in der Romandie. Im Kanton Genf, wo die Partei vor vier Jahren um 13,1 Prozentpunkte zugelegt hatte, büsste sie 8,7 Prozentpunkte ein. In der Waadt beträgt das Minus 6,2 Prozentpunkte.

Das hat auch damit zu, tun dass prominente Köpfe fehlten. So trat bei den Waadtländer Grünen die ehemalige Co-Parteipräsidentin Adèle Thorens nicht mehr an. Sie stand 2019 noch auf der Nationalratsliste, wurde dann aber in den Ständerat gewählt. Im Baselbiet war es Ständerätin Maya Graf, die nicht mehr auf der Nationalratsliste antrat. Bei den Wahlen 2019 hatte sie noch mit Abstand am meisten Stimmen für ihre Partei gesammelt. In der Wohngemeinde von Graf, Sissach, verlor die Partei prompt 15,2 Prozentpunkte.

Noch bitterer aber für die Grünen im Baselbiet: Sie konnten in keiner einzigen der 86 Gemeinden zulegen. Kantonsweit stürzte der Wähleranteil von 18 Prozent im Jahr 2019 auf 10 Prozent ab – den tiefsten Wert, seit es die Partei in ihrer heutigen Ausprägung gibt.


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