Autistisches Mädchen darf nur noch wenige Stunden in die Schule

Seit über zwei Jahren darf ein Mädchen mit Autismus-Diagnose nur noch eingeschränkt am Unterricht teilnehmen. An der Sonderschule hat es keinen Platz. Der Fall zeigt die Probleme im Aargauer Schulsystem auf.

Aargauer Zeitung, erschienen am 25. Juni 2024

Lisa (Name geändert) beschäftigt es sehr, dass sie von den meisten Aktivitäten an der Schule ausgeschlossen ist. (Symbolbild: mit Playground AI erstellt)

Jeden Tag hat Lisa darüber gesprochen, für wen sie nach den Sommerferien das «Gotti» sein darf. Letzte Woche dann die grosse Enttäuschung für die Erstklässlerin aus einer kleinen Aargauer Gemeinde: Die Lehrerin verteilte an alle einen Zettel mit dem Namen des Kindes, dem sie beim Start in den Schulalltag helfen dürfen. Nur Lisa ging leer aus.

Lisa, die anders heisst, ist sieben Jahre alt und hat eine Autismus-Diagnose. Ihren richtigen Namen nennen wir nicht, um sie und ihre Eltern zu schützen. Seit bald zwei Jahren darf Lisa nur noch eingeschränkt am Unterricht teilnehmen. Zurzeit jeweils die ersten beiden Morgenlektionen. Von Werken, Zeichnen und Ausflügen ist sie ganz ausgeschlossen.

Schule ist das Hauptthema in der Beratung

Das erzählt ihre Tante, die Lisa einmal in der Woche von der Schule abholt und betreut. Die Mutter des Mädchens fühlt sich nicht in der Lage, mit der AZ zu sprechen. Die Schulsituation belaste sie so sehr, dass sie teilweise kaum schlafen könne. Zuletzt hatten sich die Eltern mit der Schulleitung geeinigt, Lisa an eine Sonderschule mit Erfahrung für Autismus-Spektrum-Störungen zu schicken. Doch diese hat kürzlich abgesagt.

John Steggerda, Geschäftsleiter Pro Infirmis Aargau-Solothurn.
John Steggerda, Geschäftsleiter Pro Infirmis Aargau-Solothurn. (Bild: Patrick Lüthy/IMAGOpress.com)

Lisa und ihre Familie sind kein Einzelfall. Schwierige Schulsituationen sind bei der Fachorganisation für Menschen mit Behinderungen, Pro Infirmis, ein grosses Thema. In die Beratung kämen am häufigsten Eltern, deren Kind kurz vor der Einschulung stehe, sagt Geschäftsführer der Stelle Aargau-Solothurn, John Steggerda. Die Ausgangslage: Die Regelschule sagt, sie könne das Kind nicht unterrichten. Die Sonderschulen sind voll. Zurzeit warten 250 Kinder auf einen Platz an einer Sonderschule, teilt das Bildungsdepartement auf Anfrage mit.

250 Kinder auf der Warteliste für eine Sonderschule

Trotzdem findet der Regierungsrat, dass es im Aargau genug Sonderschulplätze gibt. So jedenfalls begründete er kürzlich, warum er einer Privatschule die Bewilligung als Sonderschule verwehrte. Die Kantonsregierung stützt sich dabei auf das Behindertengleichstellungsgesetz, das verlangt, dass alle Kinder, ob mit oder ohne Behinderungen, wenn möglich die Regelschule besuchen. Doch viele Aargauer Schulen tun sich schwer damit – aus verschiedenen Gründen, wie episodenhaft das Beispiel von Lisa zeigt.

Die Autismus-Diagnose erhielt Lisa erst in der ersten Klasse. Doch schon vorher war klar, dass sie im Unterricht Anpassungen braucht: Im Kindergarten habe sie von Anfang an Mühe gehabt, still zu sitzen, erzählt ihre Tante. Wenn es ihr zu viel wurde, lief sie unangekündigt nach Hause. Auf Zimmerwechsel oder andere Situationen, die sie überforderten, reagierte sie mit Wutausbrüchen.

Im zweiten Kindergartenjahr verschlechterte sich die Situation innert Wochen deutlich. Weil Lisa mehrmals weglief und sich in Gefahr brachte – sie kletterte beispielsweise auf ein Treppengeländer –, wurde sie für die Lehrerin untragbar. Zuerst musste Lisa eine Woche ganz zu Hause bleiben. Danach begannen die Unterrichtskürzungen, die bis heute andauern.

Gesetz schreibt keine Mindeststundenzahl vor

Darf die Schule die Unterrichtszeit kürzen? Laut Bildungsdepartement können Stundenplanreduktionen bei Kindern mit Beeinträchtigung in Betracht gezogen werden, wenn sie regelmässig Therapien besuchen. Die Reduktion sei schriftlich mit den Eltern und den Fachpersonen festzulegen und regelmässig auf ihre Wirkung zu überprüfen. Ganz vom Unterricht ausschliessen können Schulen Kinder und Jugendliche für höchstens zwölf Wochen.

Im Fall von Lisa stimmten die Eltern zwar der Unterrichtskürzung zu, eine schulpsychologische Abklärung, die auch die Grundlage für Fördermassnahmen wie eine Psychomotoriktherapie wäre, hatte aber bis dahin nicht stattgefunden. Schliesslich war es eine Kinderpsychologin, die Lisa zum ersten Mal abklärte. Kurz darauf verschrieb die Kinderärztin der damals Fünfjährigen erste Medikamente, die ihr helfen sollten, ihre Emotionen zu regulieren.

Mitte des zweiten Kindergartenjahrs lag endlich auch der Bericht des schulpsychologischen Dienstes vor. Die kantonale Fachstelle hat die Aufgabe, Schulen bei auffälligen Kindern zu beraten und zu prüfen, ob eine Sonderschulung angezeigt ist. Bei Lisa lautet die Empfehlung: integrative Schule mit heilpädagogischer Förderung, Assistenz und enger Begleitung durch die Lehrperson.

Die Tante sagt, die Heilpädagogin an Lisas Schule habe zu wenig Zeit gehabt, um mit ihr über einen längeren Zeitraum zu arbeiten. Meistens habe sich eine Klassenassistenz um sie gekümmert.

Plötzlich hiess es «nur noch 1:1-Betreuung»

Mit dem Übertritt in die erste Klasse erreichte die Situation ihren Tiefpunkt. Die Schulleitung sah sich aufgrund fehlender Ressourcen nicht mehr in der Lage, dem hohen Förderbedarf von Lisa gerecht zu werden. Sie drängte, das Mädchen erneut abzuklären. Dieses Mal lautete die Diagnose: Autismus-Spektrum-Störung ohne Intelligenzminderung.

An einem Gespräch mit der Schulleitung und der Schulpsychologin willigten die Eltern ein, Lisa an einer Aargauer Tagessonderschule mit Erfahrungen für Autismus anzumelden. Die Eltern hätten sich erhofft, dass ihre Tochter so wieder normal am Schulalltag teilnehmen kann, sagt die Tante. Zudem teilte die Schulleitung mit, die Unterrichtszeit fortan auf zwei Lektionen pro Tag zu reduzieren. Dies zum Wohl von Lisa, welche durch die vielen Reize im Schulalltag bereits um 10 Uhr ein sehr hohes Stresslevel zeige, wie es im Protokoll heisst.

Die Tante sagt, dass es Lisa stark beschäftige, nicht mehr mitzubekommen, was in der Schule passiert. Sie glaubt, dass eine Fachperson mit dem nötigen Wissen über Autismus ihr helfen könnte, sich besser zu kontrollieren. Sie selbst spiele mit Lisa regelmässig ein Kartenspiel, bei dem es darum geht, die eigenen Gefühle zu benennen. «Da kann sie sehr gut erklären, was in ihr vorgeht, wenn sie wütend wird.»

System von einzelnen Heilpädagoginnen abhängig

In der Schule zeigt sich Lisa offenbar ganz anders. Das geht zumindest aus dem neusten Bericht des schulpsychologischen Dienstes hervor. Darin heisst es, Lisa könne kaum Anweisungen befolgen, attackiere andere Kinder und werfe mit Gegenständen. Die Empfehlung der Schulpsychologin lautet nun – drei Monate später – nicht mehr integrative Schule, sondern Sonderschule. Lisa brauche eine 1:1-Betreuung und ein kleines Klassensetting, heisst es im Bericht.

John Steggerda von Pro Infirmis ist nicht überrascht, wie schnell sich die Einschätzung geändert hat. «Wenn eine Schulleitung sagt, wir können das Kind nicht unterrichten, lautet die Empfehlung oft Sonderschule», sagt er. Das Profil des Kindes werde dabei zu wenig berücksichtigt. Vielen Schulen fehle ein pädagogisches Konzept zur Integration, weshalb das System abhängig sei von der Expertise einzelner Lehrerinnen und Heilpädagogen.

Steggerda sieht noch ein weiteres Problem: Weil die Zahl der sozial auffälligen Kinder steige, würden Kinder mit Behinderungen immer schneller in die Sonderschule geschickt. Dass die Ressourcen zu knapp seien, um allen Kindern gerecht zu werden, sagte auch Philipp Grolimund, Co-Präsident des Schulleiterverbands, kürzlich in der AZ.

«Das ist eine wahnsinnige Belastung für die Familien»

Am schwierigsten sei die Situation, sagt Steggerda, wenn es mit dem Sonderschulplatz nicht klappt und die Regelschule das Kind wider Willen weiter unterrichten muss. Aus der Beratung kennt er mehrere Fälle, in denen Kinder dabei nur in minimalen Pensen unterrichtet wurden oder gar nicht mehr. «Das widerspricht klar dem gesetzlichen Auftrag und ist für die Familien eine wahnsinnige Belastung», sagt er.

Lisas Eltern hätten vor allem die Begründung für die Absage der Sonderschule nicht nachvollziehen können, sagt die Tante. Die Sonderschule argumentierte, auch sie könne die geforderte 1:1-Betreuung und reizarme Umgebung nicht bieten. Kurz darauf der nächste Schock: Als die Regelschule den Kanton um Rat fragte, schlug dieser eine Platzierung in einem ausserkantonalen Heim vor.

Die Tante sagt, sie wolle die Schule nicht an den Pranger stellen. Auch sie stehe unter Druck, weil es an Unterstützungsangeboten im Umgang mit Autismus fehle. Seit über einem Jahr warten die Eltern auf ein Beratung bei der Fachstelle für Autismus der Psychiatrischen Dienste Aargau, um gemeinsam mit einer Expertin und der Lehrerin die Probleme im Unterricht zu besprechen. Gerade auch deshalb, hätten sie sich vom Kanton gewünscht, dass dieser die Probleme wenigstens anerkenne und nicht schönrede, sagt die Tante. Wie es nach den Sommerferien für Lisa weitergeht, steht noch nicht fest.


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