Die integrative Schule ist in der Krise. In mehreren Kantonen fordern bürgerliche Parteien deshalb die Rückkehr zu Kleinklassen. Im Aargau wurden sie nie abgeschafft. Wie oft setzen die Schulen auf das alte Modell, das jetzt wieder in aller Munde ist?
Aargauer Zeitung, erschienen am 5. September 2024

Die Kritik am integrativen Unterricht wird immer lauter. Auch Lehrpersonen zweifeln zunehmend an der Umsetzbarkeit des Schulmodells, bei dem verhaltensauffällige Kinder oder solche mit Behinderungen mit heilpädagogischer Unterstützung in der Regelklasse unterrichtet werden sollen. Denn in der Praxis fehlen oft die nötigen Ressourcen und das Fachpersonal. Wie also weiter? Geht es nach der FDP, lautet die Lösung: Zurück zur Kleinklasse.
Keine Trendumkehr absehbar
In vielen Kantonen sind Kleinklassen jedoch längst abgeschafft. Deshalb setzen sich die Freisinnigen mit anderen bürgerlichen Parteien für deren Wiedereinführung ein. Zuletzt kam im Kanton Zürich im Juli die sogenannte Förderklassen-Initiative zustande. Im Kanton Aargau hingegen wurden die Kleinklassen und Einschulungsklassen – die auf zwei Jahre verteilte erste Primarklasse – nie verboten.
Haben angesichts der aktuellen Herausforderungen wieder mehr Schulen Kleinklassen eingeführt? Die kurze Antwort: Nein, seit Jahren ist die Zahl der Schulen mit Kleinklassen im Kanton rückläufig. Dies zeigt eine Auswertung der Daten der Schulstatistik.
Im vergangenen Schuljahr gab es noch in 38 Gemeinden mindestens eine Klein- oder Einschulungsklasse. Vor zehn Jahren, im Schuljahr 2013/14, waren es mit 74 Gemeinden noch fast doppelt so viele.
Eine Trendwende hin zu mehr Kleinklassen zeichne sich zurzeit nicht ab, sagt Patrick Isler, Leiter der Abteilung Volksschule im kantonalen Bildungsdepartement. Vielmehr rechnet Isler mit einer Zunahme von teilseparativen Klassen, in denen Kinder mit besonderem Förderbedarf nur in einzelnen Fächern in Kleingruppen unterrichtet werden.
Der Leiter der Aargauer Volksschule sagt, er kenne zwei Schulen, die eine solche teilseparative Klasse schon jetzt erfolgreich etabliert hätten. In der Statistik seien beide Beispiele als «Kleinklasse» aufgeführt. Die heute zur Verfügung stehenden Daten würden deshalb die Realität an den Schulen ungenügend abbilden, sagt Isler. «An anderen Schulen wird so ein hybrides Modell vielleicht als alternative Lernorte oder Lerninsel deklariert.»
Vor allem grosse Gemeinden haben Kleinklassen
Generell aber stehen der Wiedereinführung von Kleinklassen laut Isler vor allem praktische Hürden im Weg. Die wahrscheinlich grösste: der Platzmangel. Wegen des überdurchschnittlich hohen Bevölkerungswachstums im Aargau haben viele Gemeinden ohnehin Mühe, genügend Schulräume zur Verfügung zu stellen.
Es leuchtet deshalb ein, dass vor allem grosse Gemeinden nach wie vor eine Kleinklasse oder eine Einschulungsklasse führen – darunter Aarau, Wettingen, Möhlin, Wohlen oder Oftringen. Von den insgesamt 38 Gemeinden mit separativem Angebot hat nur eine Gemeinde weniger als 2000 Einwohnerinnen und Einwohner: Boswil.
In Gebenstorf besuchen mit knapp 11 Prozent anteilsmässig am meisten Kinder Einschulungs- und Kleinklassen. Grundsätzlich sei die Schule nach wie vor separativ ausgerichtet, sagt Oberstufenleiterin Stephanie Haberthür. So gibt es sowohl auf Primarstufe als auch in der Oberstufe für jedes Jahr eine entsprechende Kleinklasse.
Einzelne Kinder mit diagnostiziertem Förderbedarf wie ADHS oder Autismus unterstütze die schulische Heilpädagogin seit einem Jahr in den Regelklassen, sagt Haberthür. Generell sei es in Gebenstorf mit dem hohen Fremdsprachenanteil von 65 Prozent sinnvoll, gerade zu Beginn der Schulzeit gewisse Kinder getrennt, in langsamerem Tempo unterrichten zu können. «Wir haben immer wieder Eltern, die sich zuerst gegen die Einschulungsklasse wehren, dann aber froh sind, ihr Kind dort zu haben», sagt sie.
Der grösste Rückgang liegt länger zurück
Kantonsweit gab es im vergangenen Schuljahr noch 48 Kleinklassen und 54 Einschulungsklassen. Insgesamt besuchten rund 1100 Kinder und Jugendliche eine solche Klasse. Das sind 0,6 Prozent aller Schülerinnen und Schüler an der Regelschule. Der stärkste Rückgang fand in den Jahren 2006 bis 2010 statt. Patrick Isler, damals als Lehrer tätig, sagt: «Ab 2005 nahm die integrative Förderung so richtig Fahrt auf, viele Schulen schafften ihre Kleinklassen ab. Das war fast wie ein Hype.»
Ab 2014 stieg der Anteil separativ beschulter Kinder im Aargau wieder leicht, um ab 2019 erneut zu sinken. Der jüngste Rückgang dürfte vor allem auf die Einführung der sogenannten Neuressourcierung zurückzuführen sein. Seither beantragen die Schulen nicht mehr Förderlektionen für einzelne Kinder, sondern erhalten eine Pauschale vom Kanton. «Eine Kleinklasse mit nur wenigen Kindern verschlingt enorm viele Ressourcen», sagt Isler.
Volksschulleiter: «Integrative Beschulung aller Kinder ist Utopie»
Der Leiter der Volksschule sagt, er setze sich vehement dafür ein, dass Schulen mit Kleinklassen nicht per se als schlechter angesehen werden als Schulen mit integrativem Modell. Entscheidend sei die Umsetzung vor Ort. «Die integrative Beschulung aller Kinder ist eine Utopie. Es gibt Kinder, die brauchen einen kleineren Rahmen, den ihnen eine Kleinklasse oder auch ein alternativer Lernort bieten kann», sagt Isler.
Doch auch das Wissen darüber, in welchem Setting die Kinder am besten gefördert werden können, habe sich weiterentwickelt. Ein Beispiel: Ein Schüler, der in Mathe und Deutsch Schwierigkeiten hat, im Turnen aber Klassenbester ist, sollte zumindest im Turnen nicht separiert werden. «Jedes Kind hat Stärken, und diese soll es zeigen können», sagt er.
Die von der FDP lancierte Entweder-oder-Diskussion zwischen integrativer Schule und Separation findet Isler deshalb ebenfalls nicht zielführend. Welches Unterrichtsmodell am besten funktioniere, hänge vom Kind, den räumlichen Gegebenheiten – aber auch von der Lehrperson ab. Das Aargauer Schulsystem habe im Vergleich zu den Nachbarkantonen gerade den Vorteil, dass es viel Flexibilität biete.
Zahl der Kinder mit speziellem Förderbedarf nicht bekannt
Interessant wäre in diesem Zusammenhang, wie sich die Zahl der Kinder mit speziellem Förderbedarf in den Regelklassen je nach Gemeinde entwickelt hat. Dies auch deshalb, weil eine Schweizer Studie Hinweise darauf gibt, dass das Lernen aller Schülerinnen und Schüler negativ beeinflusst wird, wenn mehr als 15 bis 20 Prozent einer Klasse auffälliges Verhalten zeigen.
Die Schulen müssen zwar für die nationale Bildungsstatistik erfassen, wie viele Schülerinnen und Schüler so genannte verstärkte Massnahmen in Anspruch nehmen. Auf Gemeindeebene sind diese Daten jedoch nicht öffentlich. Laut Statistik Aargau ist ein Vergleich nicht sinnvoll, weil die Aargauer Schulen sehr unterschiedlich ausgerichtet sind. Zudem lägen keine Informationen über die Form und Intensität der Fördermassnahmen vor.
Schreibe einen Kommentar