Jeder Vierte im Aargau darf nicht wählen

In fünf Tagen wählt die Schweiz ein neues Parlament. Doch 150’000 Erwachsene im Kanton Aargau können nicht mitbestimmen. Je nach Gemeinde variiert ihr Anteil stark. Wie ein Politologe erklärt, könnte mehr Inklusion einige Probleme der aktuellen Demokratie lösen.

Aargauer Zeitung, erschienen am 17. Oktober 2023

In manchen Aargauer Gemeinden ist weniger als die Hälfte der Bevölkerung wahlberechtigt. (Bild: ZDA/Wikimedia Commons)

Sie entscheiden, ob künftig auf allen Neubauten Solaranlagen installiert werden müssen oder wie hohe Krankenkassenprämien zumutbar sind: die 246 Abgeordneten im National- und Ständerat. Wer volljährig ist, den Schweizer Pass besitzt und nicht wegen einer geistigen oder psychischen Behinderung vom Wahl- und Stimmrecht ausgeschlossen ist, kann am 22. Oktober die neue Besetzung der beiden Kammern wählen.

Im Kanton Aargau haben 74 Prozent der erwachsenen Bevölkerung ein Wahlcouvert erhalten. Oder anders gesagt: Jeder vierte Erwachsene lebt zwar hier, kann aber nicht mitentscheiden.

Im kleinsten Dorf dürfen die meisten wählen

Der Anteil der Wahlberechtigten unterscheidet sich jedoch stark von Gemeinde zu Gemeinde, wie eine Analyse der Daten des Bundesamtes für Statistik zeigt. So besitzt in Neuenhof und Spreitenbach weniger als die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung das Stimm- und Wahlrecht – so wenige wie nirgends sonst. Spitzenreiter ist Wiliberg im Bezirk Zofingen. Dort dürfen 94 Prozent wählen.

Wiliberg ist mit 167 Einwohnerinnen und Einwohnern das kleinste Dorf im Aargau. Allgemein fällt auf, dass unter den Top Ten der Gemeinden mit den meisten Wahlberechtigten alle ländlich geprägt sind und weniger als 2000 Einwohnerinnen und Einwohner haben. Hingegen liegen die Gemeinden mit den wenigsten Wahlberechtigten überwiegend im städtischen Raum oder grenzen daran an.

Ausländerinnen und Ausländer sind mit Abstand die grösste Gruppe ohne Bürgerrechte. Auch jene, die seit vielen Jahren im Aargau leben und Steuern zahlen, dürfen nicht wählen. Weder auf nationaler Ebene noch auf Kantons- oder Gemeindestufe. Wollen sie sich politisch einbringen, können sie das nur mittels einer Petition, also einer schriftlichen Anfrage oder Bitte an eine Behörde der Wahl, tun.

Das ist in der Romandie anders. In den Kantonen Jura, Neuenburg, Freiburg und Genf geben die meisten Gemeinden Menschen ohne Schweizer Pass das Stimm- und Wahlrecht auf lokaler Ebene – nach einer gewissen Aufenthaltsdauer. Im Aargau ist das nicht möglich. Der Grosse Rat lehnte im Sommer 2021 einen Vorstoss ab, der Gemeinden die Möglichkeit geben wollte, das Ausländerstimmrecht einzuführen. 

Dafür wird im Aargau derzeit die Einführung des Stimm- und Wahlrechts ab 16 Jahren diskutiert. Eine breite Allianz von Jungparteien hat im Frühling eine entsprechende Initiative eingereicht. Wann sie an die Urne kommt, ist derzeit noch offen. Bei einem Ja zur Initiative würde der Kreis der Wahlberechtigten um rund 10’400 Personen erweitert (basierend auf den aktuellen Bevölkerungszahlen).

Insgesamt machen die 16- und 17-Jährigen mit Schweizer Pass rund 1,5 Prozent der Aargauer Bevölkerung aus. Zum Vergleich: Die erwachsenen Ausländerinnen und Ausländer bilden über 20 Prozent der Gesamtbevölkerung.

Wenn eine Minderheit über die Mehrheit bestimmt

Wenn wie in Spreitenbach und Neuenhof eine Minderheit über die Mehrheit bestimmt, stellt sich die Frage, ob das noch demokratisch ist. «Demokratie beruht darauf, dass jene, die von einer Entscheidung betroffen sind, auch mitentscheiden können», sagte Daniel Kübler, Co-Direktor im Zentrum für Demokratie in Aarau im Sommer gegenüber der AZ. Wenn dies auf weniger als die Hälfte zutreffe, so müsse man von einer «exklusiven Demokratie» sprechen.

Joachim Blatter, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Luzern, sagt, der Ausschluss eines Viertels der Wohnbevölkerung vom Stimm- und Wahlrecht sei das grösste Demokratiedefizit hierzulande. «Gerade weil die Schweiz so stolz auf ihre Demokratie ist, ist es beschämend, wie viele Menschen nicht mitbestimmen dürfen – vor allem in städtischen Gebieten.»

Bei der sogenannten politischen Inklusion gehört die Schweiz im internationalen Vergleich zu den Schlusslichtern, wie Blatters Forschungsgruppe 2017 in einer Studie feststellte. Von 21 europäischen Demokratien landete sie auf dem zweitletzten Platz. Nur Zypern schnitt noch schlechter ab.

Dass die Schweiz im Ländervergleich so schlecht dasteht, liege vor allem am anspruchsvollen Einbürgerungsverfahren, sagt Blatter. Dieser Umstand könne durch das Ausländerstimmrecht in einigen wenigen Kantonen nicht ausgeglichen werden.

Ausländerstimmrecht könnte Milizsystem wiederbeleben

Dabei würde der Einbezug der ausländischen Wohnbevölkerung laut dem Politologen nicht nur Vorteile für den Einzelnen, sondern auch für das Gemeinwesen bringen. Vor allem für das kriselnde Milizsystem. Von einem inklusiveren Wahlrecht profitieren würden besonders kleine Gemeinden, da für schwer zu besetzende Stellen in der Schulbehörde oder im Gemeinderat mehr Kandidierende zur Verfügung stünden, sagt Blatter.

Eine Umfrage des Thinktanks Avenir Suisse unter den Gemeinden mit Ausländerstimmrecht untermauerte genau das. So zeigte sich, dass die meisten der ausländischen Exekutivpolitikerinnen und -politiker in Gemeinden mit weniger als 1000 Einwohnerinnen und Einwohnern tätig waren.

Zudem könne die Ausweitung des Wahlrechts den Zusammenhalt in der Gemeinde stärken, sagt Blatter. Aus der Forschung wisse man, dass sich eingebürgerte Menschen mehr über das politische Geschehen informierten und sich eher ehrenamtlich engagierten.

Initiative will Hürde für Einbürgerung senken

In den vergangenen Tagen und Wochen sind diverse Wahlzeitungen, zig Flyer mit Nationalratslisten und die Wahlzettel in den Briefkästen gelandet. Keine Post erhalten haben die rund 150’000 Erwachsenen im Aargau ohne Schweizer Pass. Eine Initiative der zivilgesellschaftlichen Allianz Aktion Vierviertel – unterstützt von linken Politikerinnen sowie Operation Libero – will das ändern und ein «modernes Bürgerrecht» einführen.

Wer seit mindestens fünf Jahren in der Schweiz lebt, «Grundkenntnisse einer Landessprache» besitzt und keine längere Gefängnisstrafe absitzen musste, soll sich auf Wunsch einbürgern lassen können, fordert das Initiativkomitee.

Das Kantonsparlament hingegen sprach sich zuletzt für strengere Regeln bei der Einbürgerung aus. So sollen Kandidierende künftig bessere Deutschkenntnisse vorweisen, und Bagatelldelikte wie das Frisieren eines Töfflis können automatisch zu einem negativen Entscheid führen. Der Regierungsrat bereitet derzeit eine entsprechende Gesetzesänderung vor.


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